György Szabados

György Szabados – Anthony Braxton
Szabraxtondos: Halott-tancortatas (Dance of reanimation) – Ajänläs ass-zonyainknak (Commendation to our woman) – Keserves (Lament) – Sza-braxtondos II
György Szabados p, Anthony Braxton as
Aufg.: 29.6. 1984 Budapest
Krem SLPX 17909

(Bezug über K&B, Katharinenstraße 6.; Aschaffenburg)

Der 1939 in Ungarn geborene Pianist György Szabados ist einer der wenigen, auch im Westen bekannten ungarischen Jazzmusiker, geprägt von ei­nem Elternhaus, in dem die Mutter (Sängerin, Musikpädagogin) die künst­lerische, der Vater (Arzt), die praktische, weltoffene Seite verkörpern. Die Einflüsse des Jazz gehen zurück in die Bebopzeit, vermittelt durch Rundfunk­sendungen und gemeinsame Freunde. Doch die ersten Erlebnisse, Erfahrun­gen waren mehr von der Art von Reflexionen als der eigener musikalischer Begehungen. Parallel zur Entwicklung des Jazz in den USA in den 60er Jahren aber gewonnen in einer eigenständigen Selbstfindungsphase und ohne “Hör- oder Sichtkontakt” mit den wirklichen Neuerern der Jazzgeschichte wie Cecil Taylor, Omette Coleman, John Coltrane, Charles Mingus oder George Russell entwickelte Szabados 1962 in einem Konzert mit dem ungarischen Bassisten Endre Publik in einer halb­stündigen Improvisation „freie Teile” zwischen Jazz, Klassik, Atonalität und Folklore, die in Spontaninteraktionen zwischen Pianist und Bassist einmün­deten. In einer Zeit, in der in Europa und besonders in Ungarn Klassik, Czardas und traditioneller Jazz domi­nierten, war dieser „Hungary-born free jazz” für viele, für György Szabados im besonderen ein künstlerisches Wagnis. Zu einer Isolation war es nicht mehr so weit. Da Szabados aber durch seinen Beruf (3 Tage in der Woche Arzt in einem Budapester Betrieb) finanziell abgesichert war, konnte er unbelastet experimentieren, Erfahrungen sammeln, eine eigene von der Musik des Elternhauses, des Liedgutes der unga­rischen Volkstradition und der eigenen Experimentierphasen geprägte freie Spielweise entwickeln, mit der er 1972 mit seinem Quintett erstmals außerhalb Ungarns in San Sebastian den großen Festivalpreis errang. Seit dieser Zeit ist er zwar selten, aber beständig – soweit ihm sein Beruf dazu die Zeit lässt – im westlichen Ausland (z. B. in der Frank­furter Alten Oper oder bei den 2. Daxberger Situationen), sucht aber auch in Ungarn den Anschluss an postmoderne Strömungen des Jazz in einer völlig eigenständigen Interpretationsweise zu halten und zu vermitteln.

Szabraxtondos ist ein Duo zwischen György Szabados und Anthony Brax­ton, das seine Initiierung einem gemeinsamen Auftritt am 19. 3. 1982 In Györ/Ungarn verdankt, seine Realisierung dann während der Debrecener Fe­stivaltage am 29.6. 1984 fand. Trotz der unterschiedlichen Herkunft und Entwicklung der beiden Jazzmusiker aus zwei unterschiedlichen „Hemi­sphären” ergeben sich verblüffende Übereinstimmungen in Quelle, Anspra­che und Ausdruck; die Volksmusik Un­garns, die Musik Bartóks, Kodalys usw. vermischen sich nahtlos mit der freien Musik der Chikagoer Musikkooperative AACM aus moderner Jazztradition und avancierter postmoderner klassischer Musik, wobei allerdings die komposito­rischen Höhepunkte (auch größtenteils die interpretatorischen) von György Szabados gesetzt werden, obwohl man Anthony Braxton kaum so gelöst, so erdenleicht hört, so natürlich wie auf dieser LP.

„Halott-táncoltatás” (einen Toten zum Tanzen erwecken) ist eine oszillogrammartige, spontane Interaktion zwischen Klavier und Altsaxophon, in der es darum geht, durch den Kuss eines Lebenden einen Toten für das Leben zurückzugewinnen, dem der Lebende durch seine fehlende Energie zum Op­fer fällt. Zarter Lyrismus wechselt schlagartig mit wilder Expressivität; atonale Passage münden, in Parlando-Rubato-Phrasierungen. „Ajanlas asszonyainknak” (für unsere Frauen) ist eine auskomponierte lyrische Epistel von Szabados, mit punktuellen Nachschleifungen, echoartig, mit spröden und hymnischen Folgen. In „Keserves” (Bitter) kommt Braxton auf dem Altsa­xophon in langen schwingenden Melodiebögen zum Zug, der Titel steht für eine ungarische Liedgruppe, einem Synonym für Klage. Verlorenheit, aber auch von Hoffnung. „Szabraxtondos II”, ein Wortkonstrukt aus den Namen der beiden Interpreten ist eine spontane Interaktion zwischen den beiden Musikern unterschiedlicher Herkunft; Ihr Gedankenaustausch lebt von Pfeif­tönen, Klaviersplittern, Tontrauben, abstrakten und konkreten Phasen, drama­tisch, melodisch, ausschmückend, Kulissen, Vorgänge die über- und nebeneinander ablaufen; dies ist sicher ein Duo der Superlative.

Summiert man den Eindruck es gibt kaum einen der moder­nen Pianisten, der sich so viele Gedan­ken macht über rhythmischen Drive, metrische Asymmetrie, Intervall Dispositionen und alterierte Akkordstrukturen (gewonnen aus dem Bartók’schen Be­wußtsein) und der sie auch praktiziert, die neuen Klangmöglichkeiten durch differenzierte Klaviersaitenpräparation erkundet und aus der ungarischen Volksmusik heraus durch Aufbrechung der Dur- und Moll-Tonarten zu den al­ten Kirchentonarten zurückfindet und deren reichen Formenenschatz zu neuartigen harmonischen Kombinationen in einer „erweiterten Tonalität” nutzt.

Ulfert Goeman